William und Joanna - ca. 1186 - ?

Beatrice hatte den schönen Tag genutzt um sich auf dem Markt umzusehen. Sie liebte es dann und wann dem Alltag zu entfliehen und sich unter das Volk zu mischen. Einfach ein wenig zwischen den Ständen entlang schlendern, hier und da einen schönen Stoff bewundern oder eine köstliche Süßigkeit probieren. Manchmal brachte sie ihrem Mann oder den Kindern eine Kleinigkeit mit. Und obwohl die Menschen sie erkannten, nahmen sie sie freundlich in ihrer Mitte auf, nicht übertrieben förmlich oder distanziert. So, als würde sie dazu gehören.
Gerade wandte Beatrice sich von einem Stand mit frischem Fisch ab, als lautes Geschrei über den Markt klang.
"Haltet den Dieb! Haltet ihn!" Ein rundlicher Bäcker rannte mit seinen kurzen Beinen hinter einem flüchtenden Blondschopf her, der offenbar ein Brot gestohlen hatte. Der Junge hatte gute Chancen zu entkommen. Nun, er hätte sie gehabt, wenn er nicht vor lauter Panik zweien von Richards Männern, die exakt dem Zweck dienten auf dem Markt für Ordnung zu sorgen, genau in die Arme gelaufen wäre. Sie hatte fast ein wenig Mitleid mit dem Bengel, der da wohl gleich mit einer Hand bezahlen würde.

Harry

Harry hörte den Ruf hinter sich und nahm die Beine in die Hand. Er wagte fast zu hoffen, dass er es schaffen würde als er mit einem Mal das Gefühl hatte als wäre er gegen eine Mauer gelaufen. Und bevor er noch begreifen konnte, was geschehen war, packten ihn mehrere starke Hände und rissen ihn herum.
"Nein, bitte ..." keuchte er und versuchte sich auf dem harten Griff der Soldaten zu befreien, die ihn erwischt hatten. "Es war doch nur ein Brot. Ich ... ich zahle morgen dafür, ich schwörs!" Einer der Soldaten lachte trocken. "Ja ja, wers glaubt."
Der andere hatte Harry inzwischen das Brot abgenommen und es dem feisten Bäcker zurück gegeben. Harry spürte wie die Wut und Verzweiflung ihm die Kehle zuschnürten. "Ich hatte doch nur solchen Hunger." Der Soldat der von dem Bäcker zurück gekehrt war, bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. "Das sagen sie alle. Irgendwelche angeblich guten Gründe habt ihr Gesindel doch immer." Dann griff er nach Harrys Oberarm und gab seinem Begleiter ein Zeichen.
Gemeinsam zerrten sie Harry an den Rand des Marktes, wo der Pranger sich befand. Harry wurde flau im Magen. Sie wollten ihn doch jetzt nicht hier an den Pranger stellen?
Im nächsten Moment wurde Harry jedoch bewusst, dass das wirklich das kleinste Übel gewesen wäre. Einer der Männer verpasste ihm einen Schlag in die Magengrube und da sie ihn nicht mehr so fest hielten, sackte Harry nach vorne und fiel keuchend auf die Knie.
Noch während er nach Atem rang, zog einer der beiden seinen Arm nach vorne und legte Harrys Hand auf einen schon älteren, etwas abgenutzten Holzblock und da wurde Harry klar, was die beiden vor hatten. Panik stieg in ihm auf und er versuchte noch einmal nach Leibeskräften sich zu befreien. "Nein, nein, bitte! Nicht." Harry kämpfte gegen die beiden Hünen an, hatte aber nicht die geringste Chance und wurde mit jeder Sekunde die verstrich und jedem Zuschauer, der neugierig näher kam, immer verzweifelter.
Diese Kerle wollten ihm die Hand abhacken! Die Hand, weil er Hunger gehabt hatte und ein Stück Brot geklaut hatte ... und Harry hatte nicht die geringste Ahnung, wie er aus dieser Sache noch heile heraus kommen konnte. Es sah wirklich finster aus für ihn.

Beatrice hatte sich vom Strom der Menschen mittreiben lassen zum Ende des Marktplatzes, wo auch der Pranger aufgestellt war. Sie beobachtete gern das Treiben der einfachen Menschen, auch wenn es solch unschöne Dinge waren.
Das Gesetz musste eingehalten werden und Diebstahl wurde gnadenlos bestraft. So war es hier seit jeher gewesen. Sie beobachtete, wie der Junge leicht zitterte und zu schwitzen begann. Offensichtlich hatte er gerade Todesangst vor dem, was gleich passieren würde. Sie konnte es verstehen.
Langsam umrundete Beatrice den Platz, damit sie dem Dieb ins Gesicht sehen konnte. Und gerade, als der Soldat sein Schwert hob um die Strafe zu vollziehen, durchfuhr es sie wie ein Blitz. Sie kannte den Jungen! Diese blauen Augen mit dem Blondschopf, seiner Mutter so sehr ähnlich...
Harry... Als er noch ein Kind gewesen war, hatte sie dann und wann mit ihm gespielt um ihm die Zeit zu vertreiben, nachdem er seine Mutter verloren hatte. Danach hatte sie immer nur einen flüchtigen Blick auf ihn werfen können. Aber diese Augen... Was trieb ihn hierher und warum stahl er ein Brot?
Ohne weiter darüber nachzudenken trat sie vor und hob die Hand. "Halt!" Ihre Stimme klang in der plötzlichen Stille nach und der Soldat senkte sein Schwert.
"Mylady?" Beatrice kam näher. "Lasst ihn frei. Ich werde mich um ihn kümmern und meinem Mann bringen, er soll darüber entscheiden. Bis dahin lasst ihm seine Hand." Sie entdeckte in der vorderen Reihe den Bäcker, ging zu ihm hinüber und drückte ihm ein paar Münzen in die Hand, die den Wert des Brotes weit überschritten. Der Bäcker verneigte sich tief und trollte sich.
"Macht ihn los, ich nehme ihn mit zur Burg."

Harry

Harry hörte ein ersticktes Schluchzen und stellte fest, dass es sein eigenes war, wenngleich es in seinen Ohren seltsam fremd klang. Vielleicht lag das an dem Rauschen, der er gerade hörte und das mit seiner ansteigenden Panik ebenfalls zugenommen hatte. Sie würden ihm die Hand abhacken und wenn er an der Wunde nicht elendig verreckte, würde er anschließend ein mehr als trostloses Leben fristen, so viel war sicher.
Er war sich nicht sicher warum er es tat, denn eigentlich wollte er nicht sehen, wie die Menge ihn begaffte, doch er sah dennoch auf - und blickte mit einem Mal direkt in das Gesicht von Beatrice. Von Richards Gemahlin. Harry nahm aus den Augenwinkeln wahr, dass der Soldat das Schwert gehoben hatte und er öffnete den Mund, wollte sie um Hilfe anflehen, doch seine Kehle war so eng vor Angst, dass er keinen Ton mehr hervor brachte.
Das war es also? Im entscheidenden Moment fehlen ausgerechnet mir die Worte?
Doch in dem Moment trat sie vor und dieses einzelne Wort, dass sie aussprach war für Harry wie das wundervollste Gedicht, das er je gehört hatte.
Die beiden Soldaten waren sichtlich verwirrt und wenngleich der eine das Schwert sinken ließ, ließen sie ihn nicht sofort gehen. "Aber Mylady, seid Ihr sicher? Dieser kleine Gauner hier wird sich bei der erst besten Gelegenheit aus dem Staub machen." wandte einer der Männer ein.
Harry versuchte noch immer etwas zu sagen, doch er konnte noch immer nicht. Unverwandt starrte er Beatrice an, flehte sie mit seinem Blick an ihm zu helfen.

Beatrice sah Harrys flehenden Blick, ging aber nicht weiter darauf ein. Harry würde ihnen nachher ohnehin noch Rede und Antwort stehen müssen. Die Frage, woher er kam und was zur Hölle er hier wollte, musste warten, so interessiert sie auch an der Antwort war.
"Ich bin sicher, Jaques... Ich bürge für den kleinen Gauner, ich kenne ihn von früher. Er wird hier bleiben und er wird seine Schuld begleichen. Und ich bin mir nahezu sicher, dass dergleichen nicht wieder passieren wird. Darum...macht ihn los, ja?"
Es beeindruckte den Soldaten sichtlich, dass sie seinen Namen kannte, denn er verneigte sich tief vor ihr und löste die Fesseln des Gefangenen.
Beatrice musterte ihn eindringlich und nickte dann mit dem Kopf in Richtung Burg. Der Bengel sollte mit ihr kommen.

Harry

Einen bangen Moment lang fürchtete Harry, dass der Soldat ihn doch nicht frei geben würde, doch Beatrice ließ sich nicht beirren und so wurden seine Fesseln schließlich gelöst. Harry drückte sich in die Höhe, machte einen Schritt in Beatrices Richtung und sackte dann erst noch einmal auf die Knie, so weich waren seine Beine, dass sie einfach nachgaben.
Einen Moment verhaarte er so vor ihr, schwer atmend und mit dem Gefühl sein Herz müsse gleich aus seiner Brust springen, so heftig schlug es. Obwohl es nicht gerade warm war, war Harry vollkommen nassgeschwitzt, so sehr hatte ihn die Angst im Griff gehabt. Er holte noch einmal tief Luft und rappelte sich dann wieder auf.
Mit einem letzten, verstohlenen Blick auf die Wachen folgte er Beatrices Aufforderung und setzte sich in Bewegung. Erst als sie außer Hörweite waren, wagte Harry es das Wort an sie zurichten. "Bei Gott, ich danke Euch, Mylady." brachte er heiser hervor. "Ihr habt mich gerettet, ich stehe wirklich in Eurer Schuld."

Beatrice wahrte eine ausdruckslose Miene und ließ sich ihr Mitleid mit Harry nicht anmerken. Sie wartete, bis er auf den Beinen und ihr außer Hörweite gefolgt war.
"Du hattest Glück, Harry, dass ich gerade heute auf dem Markt war. Das bin ich nicht allzu oft. Und dass ich dich erkannte, denn eigentlich hast du die Strafe verdient und das weißt du. Ein Dieb verliert die Hand, hier wie überall. Und du weißt das. Richard wird über dich entscheiden, ich tue es nicht. Wie kamst du überhaupt auf die dumme Idee zu stehlen? Was machst du überhaupt hier?"
Das alles war mehr als verwirrend.

Harry

"Es war doch nur ein Brot." murmelte Harry betroffen. "Ich welchen Verhältnis steht etwas zu Essen zu einer Hand?" Harry war blass geworden als Beatrice so ernste Worte an ihn richtete.
Er schniefte leise und fuhr sich mit dem ohnehin dreckigen Ärmel über das Gesicht. "Ich ... ich wollte zu Richard, aber man hat mich nicht in die Burg gelassen, sondern davon gejagt. Ich wollte nicht stehlen, wirklich nicht, aber ich habe seit Tagen kaum etwas zu Essen gehabt, ich war so hungrig." erklärte er leise und mit leicht eingezogenem Kopf. "Ich bin hier, weil ich Eure Hilfe brauche. Eure und Richards. Ich ... hatte Ärger mit meinem Vater und habe London gegen seinen Willen und ohne sein Wissen verlassen. Aber das ist nicht unbedingt eine Geschichte für die Straße, Mylady."
Harrys Magen knurrte wieder, jetzt, da der erste Schreck langsam überwunden war und er schluckte schwer. Das erste Mal in seinem Leben hatte er gelernt was es hieß wirklich zu hungern und er wollte es ganz sicher nicht wieder erleben. Die Reise hier her war wirklich kein Vergnügen gewesen und das sah man ihm mittlerweile auch deutlich an.

"Nur ein Brot, aber der Bäcker verdient mit diesem Brot Geld um seine Familie zu ernähren. Ein Brot weniger bedeutet weniger Einnahmen, weniger Geld für die Familie. Der Dieb wird deswegen von der Hand befreit, damit er nicht wieder in Versuchung gerät sie zum Diebstahl zu benutzen. Das musst du begreifen, so ist das Gesetz und danach leben die einfachen Leute."
Beatrice seufzte leise. "So wie du aussiehst, wundert es mich nicht, dass sie dich nicht reingelassen haben. Welch ein Glück, dass ich dich erkannt habe. Du bist also einfach abgehauen? Das war nicht sehr klug und offenbar auch nicht ganz so angenehm. Es ist ein weiter Weg von London nach Bordeaux. Nun komm...du wirst ein Bad nehmen und etwas essen, dann werde ich dich zu Richard bringen. So wie du aussiehst, trittst du ihm besser nicht unter die Augen."

Harry

"So wie der Kerl aussah, würde es ihm gut tun, einmal ein Brot weniger zu essen." brummte Harry leise. "Von der Hand befreit?" echote er dann wieder lauter. "Das ist doch aber barbarisch. Ich wollte mit dem Brot dem Hungertod entgehen und hätte es ja später sogar bezahlt ... und dafür gleich eine ganze Hand abhacken? Ich finde nicht, dass das sonderlich gerecht ist. Ohne Hand wird ein Mann erst Recht nicht mehr in der Lage sein auf anständigem Weg an Geld und damit an Essen zu kommen ... es ist doch beinahe ein Todesurteil so etwas zu tun."
Harry warf Beatrice einen verärgerten Blick zu. "Nicht einfach abgehauen. Ich hatte gute Gründe dafür. Dort zu bleiben wäre töricht gewesen." entgegnete er angespannt. "Ein weiter und gefährlicher Weg und ich hätte ihn sicher nicht angetreten, wenn es noch eine andere Möglichkeit gegeben hätte." Harry sah kurz an sich herab und zuckte dann mit den Schultern. "Soll er doch ruhig sehen, wozu unser ach so lieber Vater mich letztlich gezwungen hat." brummte er verstimmt. Doch die Aussicht auf ein Bad und vor allem auf etwas zu Essen, ließen sein Herz höher schlagen. Bevor er in Bordeaux angekommen war, hatte er schon zwei Tage lang nichts mehr zu Essen gehabt und hier war er ohne einen Penny in der Tasche auch reichlich aufgeschmissen gewesen.

"Aber er arbeitet ebenso hart dafür, damit seine Familie genug zu essen hat. Barbarisch? Ich weiß nicht. Woher hätte man wissen sollen, ob du es wirklich bezahlen würdest? Es gibt so viel Gesindel, Harry, glaubst du nicht, jeder nutzt jede Ausrede, die ihm möglich ist, um der Strafe zu entkommen? Diebstahl ist ein schweres Vergehen. Du findest es nicht gerecht, weil du in deinem Leben noch niemals für deinen Lebensunterhalt hast arbeiten müssen! Du hast nur dein Vergnügen im Sinn. Und eine Hand bleibt, es gibt immer einen Weg. Es soll ein Denkzettel sein. Und die Bestraften werden immer an ihre Tat erinnert. So ist das Gesetz, ich habe es nicht gemacht, aber ich finde es auch nicht gänzlich ungerecht, wie du tust. Vielleicht ein wenig drastisch."
Beatrice seufzte ein wenig genervt. "Du kommst hierher praktisch als Bettler und hast dennoch hohe Ansprüche. Du solltest dein Verhalten ein wenig überdenken, sonst wirst du bei Richard nicht auf viel Gegenliebe stoßen. Du bittest nicht, du forderst. Und jetzt komm."
Sie brachte ihn durch eine Tür und überließ ihm einem der Diener.
"Hier...Joseph kümmert sich um dich, dann komme ich dich abholen."

Harry

Harry runzelte die Stirn. "Ich finde schon, dass man erhebliche Unterschiede machen sollte. Man könnte die Strafen in unterschiedlichen Abstufungen verhängen, je nach schwere des Vergehens und vor allem sollte man demjenigen die Möglichkeit geben sich zu erklären bevor man solch ein Urteil verhängt." erwiderte er ernst und knirschte dann wütend mit den Zähnen. "Ich habe in meinem Leben sicher schon mehr Silber wie ein einfacher Mann auf der Straße verdient als ihr." erwiderte er ein wenig bissig. Der Hunger, die Erschöpfung und nicht zu letzt der Schrecken, der ihm noch immer in den Gliedern saß, machte Harry ungewöhnlich missmutig.
Bei Beatrices nächsten Worten verengte Harry kurz die Augen, schluckte einen weiteren Kommentar jedoch herunter und war erleichtert, dass sie die Burg endlich erreicht hatten.
Der ungläubige und regelrecht pikierte Blick des Dieners in dessen Obhut Beatrice ihn zurück lassen wollte, versetzte Harry einen ordentlichen Stich, aber vermutlich hatte er diese Missbilligung auch durchaus verdient.
Harry rang einen Moment dann wandte er sich noch einmal an Beatrice. "Mylady, würdet Ihr ... würdet Ihr mir ein paar saubere Kleider leihen? Ich schätze, wenn ich gebadet habe, aber wieder in meine alten Sachen steigen muss, hilft das meiner Erscheinung nur wenig." bat er leutselig und lächelte ein um verzeihungheischendes Lächeln mit dem er bisher so gut wie jeden hatte erweichen können.

"Dann solltest du dich etwas anstrengen, Berater des Königs werden und ihn zur einer Änderung des Gesetzes bewegen.", bemerkte Beatrice trocken. Harrys Art ging ihr auf die Nerven. "Du solltest deine Zunge hüten, Schwager, sonst überlege ich es mir mit der Hilfe für dich vielleicht doch noch einmal anders. Ich hätte auch eine Minute länger schweigen können, dann hättest du Abschied nehmen können von deiner Hand. Du solltest nicht so undankbar sein. Ich erfülle meine Pflicht, so einfach ist das. Ich wurde als Grafentochter geboren, also bin ich dafür geboren eine entsprechende Ehe einzugehen um ein Bündnis zu schließen. Dass die Liebe da herein spielte, war Glück. Aber ich führe schon lange Jahre Aquitanien mit Richard an meiner Seite und ich verstehe die Leute, Harry. Ich sehe jeden Tag wie sie arbeiten, wie sie leiden. Ich muss kein Geld verdienen um zu wissen, wie das Leben läuft."
Beatrice wandte sich erneut um und musterte Harry kurz. "Na gut. Ich werde dir ein paar Sachen bringen lassen. Wenn du dein Verhalten anpasst. Du bist Gast hier, benimm dich entsprechend."

Harry

Harrys Blick wurde matt und er nickte kaum merklich. "Ich bin nicht undankbar, Mylady, wirklich nicht." erwiderte er langsam. "Ihr habt mir in gewisser Weise das Leben gerettet und ich sagte bereits, dass ich dafür tief in Eurer Schuld stehe. Ich ..." Harry stockte kurz und fuhr sich durch die zerzausten Haare. "Nehmt es mir nicht zu übel, ich bitte Euch. Ich hadere nur einmal mehr damit welche Streiche mir das Schicksal im Laufe der Zeit so spielte. Es ist nicht immer ganz leicht, wenn das Leben für einen keinen wirklichen Platz bereit hält, weil man nun einmal nur ein Bastard ist." bekannte er leise.
Er war erleichtert, dass sie einwilligte ihm ein paar neue Kleider bringen zu lassen und besonders dass sie ihn schließlich mit diesem Diener alleine ließ, denn in ihrer Gegenwart fühlte Harry sich noch schlechter als er es ohnehin schon tat.
Eine Weile später saß er frisch gebadet, aber noch mit nassen Haaren am Tisch und atmete erleichtert auf als er seinen Teller geleert hatte. Der Diener hatte ihm eine Schüssel voll mit Eintopf gebracht, während das Wasser vorbereitet wurde und Harry hätte die Schüssel fast mit einem Zug geleert, wäre es nicht so heiß gewesen. Nach dem Bad standen dann noch etwas Brot, Käse und sogar ein wenig Schicken bereit und Harry fühlte sich nun gleich deutlich besser.
Nur war er sich nicht ganz sicher, wie seine Begegnung mit Richard verlaufen würde und was Beatrice ihrem Gemahl gesagt hatte. Bis vor wenigen Stunden hatte er tiefstes Urvertrauen in seinen Bruder gesetzt, doch die Begegnung mit Beatrice hatte Harry ein wenig vorsichtig gestimmt.

"Auch ein Bastard kann aus seinem Leben etwas Gutes machen. Sieh dir meinen Halbbruder Philippe an. Er ist jetzt Stallmeister meines Vaters und hat eine Beteiligung an der Zucht. Er hat ein neues Haus gebaut, eine wunderbare Frau geheiratet und lebt sein Leben. Es ist nur eine Frage des Willens und der Geduld." Beatrice ließ ihn mit Joseph allein und kam eine Stunde später zurück, wo sie Harry über den Resten seiner Mahlzeit fand.
"Ah, ein deutlich angenehmeres Bild, das muss ich sagen. Und wenn du wieder Herr deines Verstandes bist, jetzt, da du etwas gegessen hast, komm mit mir. Ich bringe dich zu Richard."
Gemeinsam durchquerten sie einige Flure und Beatrice führte ihn in Richards Arbeitszimmer. Richard erhob sich lächelnd und schloss seinen Bruder in eine kurze Umarmung.
"Harry, was führt dich denn hierher? Schickt Vater dich?"

Harry

Harry lächelte leicht als Beatrice eintrat, doch bei ihren Worten verging ihm die Heiterkeit recht schnell wieder und er beschränkte sich lediglich auf ein Nicken, um keine unpassende Antwort zu geben.
Schweigend folgte er Beatrice durch die Gänge der Burg bis zu Richards Arbeitszimmer und ihm war als würde einen tonnenschwere Last von seinen Schultern genommen als er seinen Bruder vor sich hatte. Endlich. Richard hatte immer schon Verständnis für ihn gehabt, hatte ihn getröstet und aufgemuntert, wenn Harry wieder einmal mit seinem Leben haderte und schwermütig war und obendrein war Richard immer einer seiner glühendsten Zuhörer gewesen. Kurzum, Harry liebte und verehrte seinen großen Bruder und als dieser ihn nun kurz in die Arme schloss, brach irgendein Damm in ihm.
Beinahe verzweifelt erwiderte Harry die Umarmung, lehnte die Stirn an Richards Schulter und kämpfte mit den Tränen. "Bei Gott, Richard ... ich bin so froh endlich hier zu sein." murmelte er heiser. Bei Richards Frage musste Harry lachen und verschluckte sich dabei beinahe, schüttelte schließlich keuchend den Kopf. "Himmel, nein. So Gott will, weiß er nicht einmal, dass ich hier bin." Sofern Henry Aileen diese Auskunft nicht irgendwie abgepresst hatte ... "Ich ... wir haben gestritten. Wieder einmal, aber dieses Mal ..." Harry schüttelte erneut den Kopf. Auf seinem Rücken waren noch immer zwei hellrote Striemen zu sehen, die lange gebraucht hatten, um abzuheilen und daher noch nicht gänzlich verschwunden waren. Ein Zeugnis ihres Streites, das hoffentlich bald ganz verschwunden sein würde, doch vergessen würde Harry deshalb nichts davon. "Ich konnte nicht mehr dort bleiben, Rich." murmelte Harry leise.

Richard spürte wie verzweifelt sein Bruder war und hielt ihn einen Moment lang einfach nur fest. Was war nur mit Harry geschehen? Wie kam er hierher?
"Er weiß nicht, dass du hier bist? Herrje..." Das versprach nur Ärger. "Ihr streitet öfter....was war dieses Ma anders? Sag es mir..."
Er seufzte leise. "Und du bist einfach fort gegangen. Oh Harry...du weißt, dass Vater sehr wütend auf dich sein wird. Und auf mich auch. Nun, Harry, warum kommst du zu mir? Du...möchtest hier bleiben? Ich hörte, deine Ankunft hier lief nicht ganz so reibungslos."
Beatrice unterdrückte ein Lächeln. Längst war sie nicht mehr wirklich zornig auf Harry.

Harry

Richards Nähe gab Harry den Halt, den er brauchte, um wieder zur Ruhe zu kommen und sich etwas zu sammeln. Schließlich gab er sich einen Ruck, wenngleich ihm alles andere als Wohl dabei war, die Ereignisse noch einmal zu durchleben. Harry fuhr sich ein wenig fahrig über das Gesicht und schüttelte den Kopf. "Er weiß nichts davon. Zumindest hoffe ich, dass er es nicht doch irgendwie raus gefunden hat." erwiderte er und schluckte schwer. "Ich ... er hat mich aus Truro zurück geholt und wollte unbedingt sehen, was ich gelernt habe. Er hat mich mit Hugh kämpfen lassen und war ... nun ja, wieder einmal abgrundtief von mir enttäuscht. Er war wütend, dass ich immer noch nicht wirklich besser geworden bin im Schwertkampf und wir hatten unseren üblichen Streit. Nur dass er dieses Mal" Harry stockte kurz und sein Blick huschte kurz zu Beatrice hinüber und wieder zurück. Wenn er ehrlich war, genierte er sich ein wenig vor Beatrice in dieser Sache. "Er hat mich in meiner Kammer einsperren lassen und einem seiner Männer befohlen mich ... mich auszupeitschen." Harrys Stimme war immer leiser geworden beim Sprechen und er hoffte inständig, dass Richard ihn verstanden hatte, denn noch einmal wollte er das wirklich nicht wiederholen.
Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. "Ich konnte einfach nicht mehr dort bleiben, verstehst du? Es ging einfach nicht mehr. Und du ... du bist der Einzige, der mir in dieser Situation irgendwie helfen kann. Ich bitte dich ... schick mich nicht wieder zurück." flehte Harry mit heiserer Stimme.
Bei Richards letzten Worten huschte sein Blick noch einmal zu Beatrice und er nickte beklommen. "Ohne Beatrice wäre ich jetzt nicht hier. Und schon gar nicht in einem Stück." murmelte er.

Richard lauschte seinem Bruder nachdenklich und seine Erzählung löste eine Welle der Bestürzung in ihm aus. Henry griff eher selten zu solchen Methoden um seine Kinder gefügig zu machen. Meistens hatte er das auch nicht nötig. Offensichtlich wollte er bei Harry einfach nicht wahr haben, dass dieser seinen Vorstellungen so gar nicht entsprach.
"Brauchst du einen Arzt, Harry?", fragte er ernst. "Keine Sorge, ich schicke dich vorerst nicht wieder zurück. Du kannst erst einmal hier bleiben. Wir finden schon eine Lösung für dich. Außerdem freut mein Hof sich immer über ein schönes Gedicht."
Richard lächelte leicht. "Nun ja, meine Frau hat in der Tat ein Talent dazu im richtigen Augenblick aufzutauchen. Harry....was ist mit Aileen? Geht es ihr gut?"

Harry

Harry schüttelte den Kopf. "Ich bin schon ein Weilchen unterwegs, es ist alles so gut wie verheilt. Ich denke, gutes Essen und ein weiches Bett reichen für den Anfang." erwiderte er mit einem scheuen Grinsen. "Und vielleicht ein paar Kleider, die mir passen." fügte er hinzu und sah an sich hinab. Die Sachen, die Beatrice ihm geliehen hatte, waren ihm etwas zu groß und unterstrichen den Umstand, dass er auf seiner Reise hier her nicht gerade zugenommen hatte noch zusätzlich.
Bei Richards nächsten Worten wurde Harry von dem Gefühl der Erleichterung nahezu überwältigt und seine Knie wurden so weich, dass er sich auf den nächstbesten Stuhl sinken ließ. "Danke Richard." murmelte er leise.
Dann wurde er jedoch wieder eine Spur blasser. "Ich ... ich weiß es nicht. Ich hoffe es. Ich habe sie dazu gedrängt einen Brief nach Truro zu schicken, damit Lady Joanna sie vielleicht zu sich holen kann. Aber ich habe keine Ahnung, ob es funktioniert hat. Ich hoffe es inständig." Harry fuhr sich durch die zerzausten blonden Locken und sah Richard mit banger Miene an. "Ich hätte sie so gerne mitgenommen, aber es wäre viel zu gefährlich gewesen." murmelter er betroffen. "Ich hatte gehofft, dass du ... dass du sie vielleicht her holen könntest? Ich mache mir wirklich Sorgen, um sie. Wenn sie jetzt allein Henry und John ausgesetzt ist ..." Harry schüttelte den Kopf.

"Wie du möchtest, deine Entscheidung. Für Kleider wird sich sorgen lassen, Beatrice wird auf die Schnelle nichts Anderes als meine Kleider gefunden haben." Diese waren Harry natürlich etwas zu weit und zu lang, denn Richard war nicht nur einen Kopf größer als sein Halbbruder, er war auch deutlich muskulöser.
"Keine Ursache. Ich denke, es ist besser du bleibst hier, als dass du dich wieder mit Vater herum schlägst. Und Aileen...ich denke nicht, dass er ihr etwas tut. Sie ist immer noch ein Mädchen. Davor, Hand an sie zu legen, scheut sich sogar Henry. Wir werden ein klein wenig Gras über die Sache wachsen lassen und dann versuchen wir sie hierher zu holen. Aber...Beatrice könnte einen Brief an ihre Mutter schreiben und fragen, ob Aileen bei ihr ist. Das wird nicht allzu auffällig sein. Sie haben öfter Briefkontakt. Unauffälliger, als wenn ich den Brrief schreibe. Ich bin sicher, es geht ihr gut. Sie ist ein kluges Mädchen."

Harry

"Danke. Auf die Schnelle sind sie wirklich mehr als gut, viel besser vor allem als meine alten Sachen. Aber in deinen Sachen sehe ich nun mal leider noch mehr aus wie ein Hungerleider." bemerkte Harry mit einer gewissen Portion Selbstironie.
Harry ließ sich auf dem Stuhl ein wenig zurück sinken und lächelte. "Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet. Ich kann gar nicht wieder gut machen, was ihr für mich tut." Harry betrachtete seinen Bruder einen Moment versonnen und grinste dann leicht. "Vielleicht sollte ich einen Anfang damit machen, dass ich ein Gedicht über dich und deine Heldentaten schreibe." erklärte er amüsiert, meinte es aber durchaus ernst. Und er hatte durchaus auch schon Ideen für ein solches Werk.

Richard lachte leise. "Kein Wunder, wir werden dich einfach ein wenig aufpäppeln müssen. Aber das bekommen wir schon hin. Dann passen auch die Kleider wieder. An Essen mangelt es uns hier sicher nicht. Danke mir für alles andere, wenn wir sie hierher geholt haben. Ich fürchte, die Sache wird noch vertrackter, als wir uns vorstellen können. Aber ich tue mein Bestes, mit Vater werde ich schon fertig."
Richard lächelte und legte den Kopf schief. "So? Ein Werk über mich? Ich fühle mich geehrt. Darauf bin ich gespannt. Ich möchte es als Erstes lesen, wenn du mir schon die Ehre erweist. Und nun geh, ruh dich aus. Du bist sicher erschöpft. Joseph wird dir dein Zimmer zeigen."
Richard machte eine ermunternde Geste.

Philippe war noch immer ein wenig blass als er das Haus betrat in dem sie nun schon seit einer Weile wohnten. Er kam gerade von seinem Vater und dieser hatte ihm anlässlich der Taufe des kleinen Francis', die gestern stattgefunden hatte, Neuigkeiten eröffnet, die Philippe sichtlich überrascht hatten.
Er gab Merle, die ihm am Eingang begegnete seinen Mantel und erkundigte sich nach Amélie, die offensichtlich in ihrem Gemach war. Also ließ er die Magd mit einem Kopfnicken stehen und machte sich auf den Weg.
Es war ihm immer noch ein wenig unheimlich, dass sie nun so ein großes Haus hatten, aber es erfüllte ihn auch mit Stolz, jedes Mal, wenn er durch die Tür trat.
Als er nun das Gemach betrat, sah er Amélie am Fenster sitzen und ging zu ihr hinüber, um sie in die Arme zu schließen. "Habe ich dich in dem großen Haus also doch noch gefunden ohne mit zu verlaufen." scherzte er leise und gab ihr einen liebevollen Kuss zur Begrüßung.

Amélie hatte sich ans Fenster gesetzt um ein wenig auszuruhen. Sie erholte sich noch von der Geburt ihres jüngsten Sohnes Francis, aber bald würde sie vollkommen erholt sein. Sie genoss das Leben in dem neuen, großen Haus und auch an Merles Anwesenheit hatte sie sich gewöhnt.
Als ihr Mann eintrat, lächelte sie ihn an und erwiderte seinen Kuss.
"Es wäre auch ein Jammer gewesen, hättest du dich verirrt und wärst verloren gegangen." Amélie lachte leise und strich ihm über die Wange.
"Komm, setz dich zu mir....und dann sagst du mir, was passiert ist. Du bist so blass, so kenne ich dich gar nicht."