William und Joanna - ab 1183

John war froh, dass er sich etwas Zeit gestohlen und zu seiner Familie nach Mortain gegangen war. Immer wieder merkte er, wie sehr ihn Diana und die Kinder mittlerweile anzogen, ihn banden und ihm ein Stück Heimat gaben, das er vorher so nie gekannt hatte.
Er blickte von seiner Lektüre auf und warf einen flüchtigen Blick aus dem Fenster, runzelte dann die Stirn. Diana hatte versprochen, sie wollte nur ganz kurz nach ihrer Stute sehen, es gehe ihr ausgezeichnet. Aber für seinen Geschmack war sie nun schon zu lange fort.
John erhob sich und machte sich auf den Weg. Sie hasste es, wenn er sie bemutterte, aber das war ja wohl zu entschuldigen, wenn er sich um sie sorgte. Diana war immerhin hochschwanger.
Einige Augenblicke später beglückwünschte er sich zu seinem Instinkt.
Er eilte zu seiner Liebsten, die angestrengt in der Stallgasse lehnte und ihn verfluchte. "Nun, so schlimm bin ich nun auch wieder nicht, oder? Red dem armen Kind doch nichts ein."
John legte ihr stützend den Arm um die Hüfte. "Solange es nicht so unvernünftig wird wie seine Mutter...", merkte er liebevoll an.

Als eine ihr so herrlich vertraute Stimme erklang, musste Diana mit aller Kraft einen Laut zurück halten von dem Sie vermutete, dass er einem Wimmern verdächtig nahe gekommen wäre. Die Erleichterung über Johns plötzliches Auftauchen war so überwältigend, dass ihre Knie einen Augenblick weich wurden und sie mehr als dankbar über den stützenden Arm um ihre Hüfte war. Halt suchend lehnte sie sich an ihren Retter und sah mit einem matten Lächeln zu ihm auf. "Oh doch, ungeduldig und sturköpfig bist du." wisperte sie und legte den Kopf an seine Schulter, um einen Moment die Augen zu schließen und Kraft zu schöpfen. Jetzt, da John da war, war Diana wieder voller Zuversicht. Natürlich würden die kommenden Stunden anstrengend werden, aber das hatte sie bereits zweimal geschafft, es würde ihr wieder gelingen. Jetzt, da ihr Liebster sie gefunden hatte.
Sie lachte leise und schlug die Augen wieder auf. "Ich fürchte, ich habe wenig Hoffnung, was das angeht. Kein Kind, das wir beide gemeinsam bekommen, könnte jemals ein Lämmchen werden, von vernünftig ganz zu schweigen."

"Vielleicht manchmal...", gab John lächelnd zu und hauchte ihr einen Kuss auf den Scheitel. "Nun komm, lass uns dich nach oben bringen. Du bist wirklich nicht zu retten...in deinem Zustand allein im Stall. Boudicca kann dich schließlich nicht entbinden."
Langsam führte er sie Schritt für Schritt zurück in den Bergfried und die Treppe hinauf zu ihren Gemächern, während ein Diener bereits auf dem Weg zur Hebamme war und eine Schar Mägde wie aufgescheuchte Hühner alle möglichen Vorbereitungen traf.
"Da könntest du Recht haben. Ich glaube auch nicht, dass unsere Kinder jemals wie Lämmer werden. Die Amme ist wirklich nicht zu beneiden."
John half ihr vorsichtig auf das Bett.
"Ich freue mich trotzdem sehr auf unseren Nachwuchs." Er liebte seine Kinder wirklich sehr, obwohl ihm das nie jemand zutrauen würde.

Diana nickte nur und setzte sich auf John gestützt langsam in Bewegung. Doch trotz der Mühe, die sie hatte, musste sie noch ein wenig Atem verschwenden, um ihm zu antworten. "Nun ... das nicht, aber ... mein Prinz hat mich ja gerettet. Zuverlässig wie er ist." erwiderte sie ein wenig atemlos, aber mit sanfter, liebevoller Stimme.
Diana war dankbar, dass sie sich nun erst einmal nur noch auf das Vorankommen konzentrieren musste und John die Dienerschaft in Bewegung brachte, denn erst als Diana sich mit Johns Hilfe auf dem Bett niederließ, fühlte sie sich wieder in der Lage das Wort ergreifen zu können. Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. "Das sollen sie ja aber auch ohnehin nicht, Lämmer werden, meine ich, nicht wahr?" bemerkte sie und ließ sich für einen kurzen Moment in die Kissen sinken, um etwas auszuruhen. "Schließlich fließt Plantagenet Blut in ihren Adern. Löwenblut." Ganz gleich, ob die Kinder Bastarde waren oder nicht. Und vielleicht ... vielleicht würde John sie ja doch eines Tages heiraten können und ihre Kinder würden legitimiert werden.
Aber all das war ferne Zukunftsmusik, wusste Diana. Jetzt und hier war es erst einmal nur wichtig, dass sie ihren dritten gemeinsamen Spross auf die Welt brachte.
Sie sah John in die Augen und lächelte. "Ich weiß." erwiderte Diana zärtlich und legte eine Hand an seine Wange. "Und dafür liebe ich dich so sehr, John Plantagenet." murmelte sie.

John nickte und musste lächeln. "Da hast du ganz Recht. Sie sollen der Welt schließlich die Zähne zeigen, wenn sie einmal groß sind." Und das würden sie, da war er ganz sicher. So würden seine Kinder auch erzogen werden.
Sie würden es schwer genug haben, aber schließlich war auch ein Bastard schon König von England gewesen. Die Möglichkeiten waren also schier unbegrenzt. "Und ich liebe dich, mein Engel. Jetzt sei tapfer, streng dich ein bisschen an und schenk mir noch ein wundervolles Kind."
Er küsste ihre Schläfe und wandte sich dann um, um der ankommenden Hebamme Raum zu geben. "Ich werde an dich denken, meine Schöne."
Und vielleicht schadete ja das ein oder andere Gebet nicht.

Diana schenkte John noch ein kleines, von der Anstrengung etwas mattes Lächeln. "Bin ich nicht immer tapfer?" erwiderte sie und zwinkerte ihm zu. "Und natürlich wird es wundervoll ... das sind sie alle." Und wie könnten sie das auch nicht sein? Diana liebte ihre Kinder von ganzem Herzen und sie heranwachsen zu sehen erfreute sie jeden Tag aufs Neue. Auch wenn sie sich häufig Gedanken und nicht selten auch Sorgen um ihre Zukunft machte, so war jedes dieser Kinder doch ein Gottesgeschenk in ihren Augen.
Sie warf John noch einen letzten Blick zu, ehe sie ihre volle Aufmerksamkeit der Hebamme und dem Kind, das nun unbedingt herauswollte, widmete. Sie wusste, dass noch viel Arbeit vor ihr lag, aber wenn es erst einmal überstanden war, würde sie schließlich ihr drittes Kind in den Armen halten und das war die Mühe auf jeden Fall wert.

John hatte geduldig gewartet, bis es soweit war. Schließlich hatte er darin inzwischen Übung und in dieser Hinsicht konnte er auch tatsächlich Geduld aufbringen, so schwer ihm das sonst auch fiel. Vielleicht musste er doch noch einen Weg finden, seine Liebste zu heiraten. Eines Tages...
Doch dann endlich konnte er wieder zu Diana.
Er betrat auf leisen Sohlen das Gemach und setzte sich zu ihr auf die Bettkante, während die Mägde aus dem Raum huschten. Ein Ruf als Finsterling hatte durchaus auch seine Vorteile.
"Nun, meine Schöne, was ist es geworden, hm?" Neugierig beäugte er das Bündel mit dem dunklen Haarflaum in ihren Armen, aus dem ein noch krebsrotes Gesichtchen ihn anblinzelte.

Diana saß aufrecht von einem wahren Berg an Kissen gestützt im Bett und und sah auf das kleine Bündel in ihren Armen hinab. Zwischen all den weichen Tüchern lugte das kleine Gesichtchen ihres jüngsten Sprosses hervor und der Anblick entlockte Diana ein zärtliches Lächeln. Sie war erschöpft, aber es war eine vergleichsweise leichte Geburt gewesen und es war recht schnell und ohne Probleme verlaufen. Dennoch hatte Diana sich hart auf die Zunge beißen müssen als die alte Hebamme ihr sachte das Knie getätschelt und gesagt hatte, sie sei wie geschaffen für das Kinder kriegen, so leicht wie es ginge. Sie hatte die harsche Antwort heruntergeschluckt und jetzt war die Bemerkung ohnehin vergessen, denn Diana war einfach nur glücklich darüber, dass Gott John und ihr ein drittes gesundes Kind geschenkt hatte.
Als ihr Liebster nun leise die Kammer betrat, konnte Diana nur mit Mühe den Blick von ihrem Kind nehmen, schenkte John aber dennoch ein Lächeln ehe sie wieder auf das Kind hinab sah. "Ein Junge." erklärte sie und stellte ein wenig überrascht fest, wie viel Stolz in ihrer Stimme mitschwang. Er erschien ihr ein wenig albern, dieser Stolz, aber sie war machtlos gegen die Gefühle, die sie hier überwältigten. "Ein kerngesunder Junge." wiederholte sie und sah John nun doch noch einen Moment länger an. "Möchtest du ihn halten?" fragte sie, wenngleich sie fast Unwillen bei dem Gedanken verspürte ihren Sohn schon wieder aus den Armen zu geben.

John musste über den unüberhörbaren Stolz in Dianas Stimme schmunzelnd. Unrecht hatte sie nicht, immerhin war es schon der zweite Sohn, den sie ihm schenkte, während er mit seiner Ehefrau keinen Sohn vorzuweisen hatte.
"Wundervoll....das hast du gut gemacht, ich danke dir." Er nickte leicht. "Nur einen kleinen Moment, dann bekommst du ihn wieder." Er nahm vorsichtig seinen Sohn entgegen und küsste behutsam die winzige Stirn. "Ein kräftiger Bursche, hm? Du wirst einmal groß und stark werden." Er reichte ihn seiner Liebsten zurück.
"Wie wollen wir ihn nennen, was denkst du?" Auch ein Name wollte immer mit Bedacht ausgewählt werden. "Einen starken Namen..." Er würde noch genug Durchsetzungsvermögen brauchen, sein kleiner Sohn. Denn ein Bastard war er natürlich...

Diana lächelte bei Johns Worten und gab ihren Nachwuchs vorsichtig in die Arme seines Vaters. Der Anblick von Vater und Sohn wärmte ihr noch mehr das Herz, sie konnte einfach nie genug von diesem Anblick bekommen. In der Nähe seiner Kinder war John nochmal ein ganz anderer Mann und nicht zu vergleichen mit dem düsteren Gesellen, den er der Welt immer vorspielte. Sie wusste genau, dass ihre Kinder ihm gut taten und vielleicht waren es diese Dinge, die Johns Seele letztlich doch vor der Verdammnis retten würden.
Vorsichtig nahm sie den kleinen Jungen zurück und betrachtete das kleine Gesicht nachdenklich. "Sein Vater hat einen starken Namen ..." murmelte sie und hob dann langsam den Blick, um John anzusehen. Es war nicht so abwegig den Jungen nach John zu benennen. Ihr erstgeborener hatte mit dem Namen seines Großvaters ohnehin schon für Gerede gesorgt, alles was jetzt noch kam, würde den Hof kaum mehr in Unruhe versetzen. Man runzelte ohnehin die Stirn über sie und wenn die Kinder wenigstens Namen bekamen, die sie mit ihrer Familie verbanden und auf ihr königliches Blut hinwiesen, umso besser. Sie mochten Bastarde sein, aber sie entstammten nun einmal einer Verbindung aus den zwei mächtigsten Familien des Reiches und Diana wollte, dass ihre Kinder sich dessen nicht nur bewusst waren, sondern auch stolz darauf sein konnten.

John musterte Mutter und Sohn voller Stolz. Wer hätte je gedacht, dass er einmal mit Leib und Seele Vater sein würde....das Verhältnis zu seinen eigenen Eltern war nun nicht so gut gewesen.
"Du willst ihn John nennen?", fragte er Diana dann verblüfft. "Bist du sicher, dass er daran nicht ein wenig schwer trägt?"
Doch er fühlte sich durchaus geschmeichelt. Ein Sohn, der seinen Namen trug. Was für eine schöne Idee... Seinen Namen gab es oft in England, sehr oft...Warum also sollte er eine Bürde sein? Man stellte ja nicht gleich den Zusammenhang mit ihm her.
"Das ist...eine gute Idee. Ich fühle mich geehrt." Er küsste Dianas Stirn.
"Was wäre ich nur ohne dich, meine Schöne..." Er hatte oft den Verdacht, dass sie vielleicht die größte Hoffnung darauf war, nicht völlig der Verdammnis zu verfallen.

Diana nickte entschlossen. "Das will ich und ich denke nicht, dass er das tun wird. Ich denke, er wird zu einem guten und starken Mann heranwachsen, zu einem Plantagenet ... wenn auch nur im Herzen." Denn sie war fest davon überzeugt, dass ihre Kinder all ihrer beider guten Eigenschaften ineinander vereinten und wenn es John und ihr gelang ihnen den richtigen Rückhalt zu bieten, dann würden sie ihren Weg schon finden.
Diana lächelte sanft als er ihre Stirn küsste. "Verloren, fürchte ich." erwiderte sie und legte zärtlich die freie Hand an Johns Wange. "Aber das bist du ja zum Glück nicht, denn du hast mich ja an deiner Seite. Und ich dich an meiner." fügte sie hinzu.
Und wer hätte jemals gedacht, dass es so kommen würde? Ihrer beider Bekanntschaft hatte schließlich unter eher schweren Bedingungen begonnen. Doch sie hatten diesen langen, steinigen Weg hinter sich gebracht und Diana war nach wie vor noch immer fest von der Richtigkeit ihrer Entscheidung überzeugt. Sie liebte John und wollte ihn nicht aufgeben.

Helene schlenderte über den Pfad, der sie zu den weißen Felsen geführt hatte, zurück zur Burg. Sie hatte die Ruhe genossen, allein mit ihrem jüngsten Nachwuchs, den sie in einem Tuch vor der Brust trug. Die kleine Rachel war ein wonniges Kind, sie schlief viel, weinte kaum und erfreute jeden mit ihrem sonnigen Gemüt, von dem Helene durchaus ahnte, woher sie es hatte.
Wenige Wochen war Rachel nun alt und immer noch wollte Helene um jeden Preis vermeiden, dass Edward es jemals erfuhr. Es würde seine Ehe wohl völlig zerstören und sie wusste, er hing wirklich an Claire.
Es war eine Bürde, denn schließlich wäre dieses Kind vielleicht die Möglichkeit gewesen, Edward zurück zu gewinnen. Das dachte sie oft in ihren düsteren Stunden, obwohl sie nicht einmal sicher war, ob sie ihn zurück wollte für mehr als ihre Freundschaft. Nun, er war im Krieg und hatte vermutlich auch wenig Lust nochmal so schnell in Kent vorbei zu sehen.
Wenn Rachel größer war, ließ es sich sicher leichter verbergen, wer sie war, obwohl sie einen verdächtigen Rotstich in ihrem Blondschopf aufwies. Vielleicht dunkelte ihr Haar noch nach. Helene war nur froh, dass sie es nicht allein durchstehen musste...Mary und Charles waren ihr wirklich wundervolle Freunde in jeder Hinsicht.

Mary hatte den Pfad eingeschlagen, der von der Burg zu den wunderschönen weißen Klippen an Dovers Küste führte und lächelte kurz als sie eine Gestalt entdeckte, die ihr entgegen kam. Nachdem sie Helene in der Burg nicht hatte finden können, hatte sie vermutet hier draußen fündig zu werden. Langsam schritt sie ihrer Freundin entgegen bis sie einander erreicht hatten. "Ich dachte mir doch, dass ich dich hier draußen finde." begrüßte sie Helene und musste leise lachen als sie von dem Säugling in Helenes Tragetuch mit einem strahlenden Lächeln und einem vergnügten Glucksen begrüßt wurde. "Ja, dir gefällt es hier draußen auch ganz besonders, nicht wahr?" bemerkte sie und strich ihrer kleinen Nichte mit dem Finger über die rosige Wange.
Mary liebte Kinder grundsätzlich, aber dieses kleine Mädchen machte es wirklich allen Menschen leicht ihrem Charme zu erliegen.
Mit etwas Mühe löste Mary den Blick wieder von der kleinen Rachel und sah zu deren Mutter. "Ich ... habe einen Brief von meinem Bruder bekommen und dachte, ich erzähle dir in Ruhe davon. Und vor allem bevor in der ganzen Burg schon irgendwelche Gerüchte herum geistern." begann Mary, nun eine Spur ernster. Edward war und blieb einfach ein heikles Thema ...

Helene lächelte leicht, als Mary ihr entgegen kam. "Nun, man muss das Wetter nutzen, solange es währt, nicht? Solange es einmal nicht regnet. Außerdem tat mir ein kleiner ruhiger Spaziergang gut, ich habe viel zu lange herumsitzen müssen. Und Rachel gefällt es in der Tat."
Sie hob eine Augenbraue und gab sich dann einen Ruck. "Von Edward?" Natürlich von Edward, sonst hätte Mary es nicht so gesagt. Was wollte er nur, dass sie betraf, sodass Mary es ihr sagen wollte?
"Was schreibt er? Nun, immerhin geht es ihm gut, nicht wahr...Das ist im Krieg ja auch nicht selbstverständlich, aber wenn er schreiben kann." Und sie hatte ja doch irgendwo immer noch Gefühle für ihn, auch wenn sie es nicht so gerne zugab.
"Es ist nicht sonderlich erfreulich für mich, so wie du aussiehst. Aber das bin ich gewohnt, also nur keine Scheu..."
Nach allem, was sie inzwischen erlebt hatte, schreckte sie so leicht nun wirklich nichts mehr.

Mary schmunzelte und nickte verständnisvoll. "Ich weiß genau was du meinst. Nach einer Schwangerschaft war ich auch immer rastlos und konnte es kaum erwarten endlich wieder unbeschwert Spaziergänge zu unternehmen und all solche Dinge zu tun, die mir vorher verwehrt waren."
Dann nickte sie, ein kleines Lächeln, das vor allem Erleichterung zeigte, umspielte ihre Lippen. "Es geht ihm gut und nicht nur ihm, die Lage auf dem Kontinent scheint für uns im Moment recht günstig." Und allen, die Mary am Herzen lagen und die in diesem Krieg steckten, ging es gut.
Sie wurde wieder ernst und hob leicht die Schultern. "Das ist es nicht direkt, unerfreulich für dich, meine ich. Aber es wird womöglich etwas kompliziert werden ..." begann Mary und seufzte leise. "Er wird bald her kommen, Helene. Er schreibt, dass er für Richard irgendetwas hier in England erledigen soll und das mit einem persönlichen Aufenthalt verbinden will. Und unter anderem will er hier vorbei schauen." Edward hatte geschrieben, dass er sie und ihre Familie wiedersehen und natürlich nach seinem Sohn sehen wollte und Mary hoffte inständig, dass es auch wirklich nur das war ... dass ihr Bruder sich nicht doch insgeheim auch noch nach Helene sehnte und damit alles auf den Kopf stellen würde.
"Er will Zeit mit Raphael verbringen und - auch wenn er das nicht explizit schreibt - ich vermute, dass er sehen will wie weit der Junge ist, ob er ihn bald irgendwo für die weitere Ausbildung hingeben soll. Darüber denkt er ja schon länger nach." Mary hob erneut die Schultern. "Ich wollte einfach, dass du darauf vorbereitet bist, dass er kommen wird." schloss sie und legte Helene kurz eine Hand auf den Oberarm.

Helene hob die Schultern. "So ist es....Und die Kinder sind turbulent genug, da tut mir ein bisschen Ruhe ganz gut." Sie nickte langsam. "Oh, das ist doch gut." Zumindest, dass es allen gut ging. Dieser Krieg war für sie eine schwierige Sache, schließlich war sie ja eigentlich Französin. Sie wusste nie recht, was sie davon halten sollte. Der Krieg fand ja schließlich auch in ihrer Heimat statt.
Im nächsten Moment stöhnte sie leise. "Oh nein...Ich meine, es ist sein gutes Recht seinen Sohn zu sehen. Aber wie soll ich denn Rachel vor ihm geheim halten, Mary? Ich kann ihm das doch unmöglich sagen, es wird seine Ehe wahrscheinlich völlig ruinieren und du weißt, dass er immer irgendwelche Dummheiten im Kopf hat."
Helene seufzte tief. "Und Raphael...ja, ich weiß ja, dass es bald Zeit wird für den Jungen, aber es fällt mir einfach nicht leicht meine Kinder gehen zu lassen. Er würde mir so schrecklich fehlen. Vielleicht lässt Edward ihn mir ja noch ein bisschen."
Ihre Kinder haben ihr den Halt, den sie sonst nirgendwo finden konnte. Seit dem Tod ihres Liebsten war ihre Welt ohnehin nicht mehr das, was sie einmal gewesen war.

Mary zuckte ratlos mit den Schultern. "Ich weiß es noch nicht. Aber wir haben ja zum Glück noch Zeit bis er tatsächlich herkommt. Wir müssen uns einfach einen guten Plan überlegen, am besten wird es sein, er bekommt die Kleine in der Zeit in der er hier ist einfach gar nicht zu Gesicht. Irgendwie bekommen wir das schon hin." versuchte Mary ihrer Freundin Mut zu machen.
Sie selbst war etwas zwiegespalten bei dem Gedanken daran Edward die Existenz seiner Tochter vorzuenthalten, aber Helene hatte natürlich Recht, es würde Edward vermutlich endgültig in den Abgrund stürzen und ganz davon abgesehen war es Helenes Entscheidung, ob sie es Edward erzählte oder nicht und Mary würde sie so oder so unterstützen.
"Ich verstehe dich zu gut, es ist schwer wenn die Kinder nach und nach das Nest verlassen. Aber ja, vielleicht lässt er ihn noch eine Weile hier. Und womöglich finden wir auch dafür eine Lösung. Edward liebäugelt doch damit ihm eine geistliche Laufbahn zu ebnen, vielleicht kann der Junge ja erst einmal hier in Dover das Kloster besuchen. Er ist noch jung, er könnte zunächst weiter hier auf der Burg wohnen bleiben und für den wichtigen Unterricht ins Kloster gehen und so könnte man nach und nach sehen, ob er für diesen Weg bestimmt ist und du hättest zudem noch etwas mehr Zeit mit ihm."

"Das wird schwierig umzusetzen sein, das weißt du. Rachel braucht mich noch viel zu sehr und ich kann nicht sicher sein, dass das nicht gerade der Fall ist, wenn Edward mit mir sprechen möchte. Aber ich schätze, wir werden es einfach auf uns zukommen lassen müssen. Eine bessere Idee habe ich auch nicht, das steht fest. Aber ich danke dir sehr für deinen Zuspruch. Es ist nicht selbstverständlich, dass du in dieser Sache zu mir stehst, es geht schließlich um deinen Bruder. Und wenn er es herausfindet...Gott weiß, was er dann tun wird."
Helene lächelte leicht. "Das ginge? Das wäre eine hervorragende Idee. Ich werde es Edward vorschlagen, wenn er mich danach fragt. Ich denke, darauf könnte er sich einlassen. Dann würde ich ihn wenigstens noch sehen können. Ich sehe Michael schon selten genug."
Rachel gab ein leises Quietschen von sich, Helene strich ihr liebevoll über den Kopf. "Wir sollten zurückgehen, ich glaube, die junge Dame bekommt langsam Hunger. Meine Güte, warum muss Edward unser Leben nur immer wieder durcheinander bringen? Er ist wirklich für das Chaos geboren."

"Schwierig ja, aber vielleicht nicht ganz unmöglich. Lass mich noch ein wenig darüber nachdenken, bis es soweit ist, haben wir einen Weg gefunden mit dem wir es zumindest versuchen können." erwiderte Mary und lächelte dann sanft. "Er ist mein Bruder, aber du bist meine Freundin und Rachel meine Nichte. Du weißt, dass es mir ein wenig Kummer macht, dass Edward von diesem Sonnenschein nichts erfahren wird, denn wenn er einen guten Charakterzug hat, dann die Liebe zu seinen Kindern und ich weiß, dass er sich eine Tochter wünscht, die er bei sich hat, denn Juliana sieht er schließlich mehr als selten. Aber es ist deine Entscheidung und ich respektiere sie, nicht zuletzt, weil ich genau weiß, dass Edward sich und uns alle wohl ins Unglück stürzen würde, wenn er von Rachel erfährt. Es ist also letztlich für uns alle so das beste." Zumal Edward in seinem Brief angedeutet hatte, dass er dabei war sich mit Claire zu versöhnen und einen Neuanfang zu wagen ... Mary wollte nicht, dass dieses dünne Band sogleich wieder zerrissen wurde.
"Nun, wir müssten es natürlich mit dem Abt besprechen, er muss seine Zustimmung geben. Aber ich wüsste nicht, wieso er ablehnen sollte. Wenn Raphael sein Kloster besucht, wäre das ein enormer Prestigegewinn für ihn und Charles und ich haben eine gute Verbindung zu dem Kloster, sie beziehen regelmäßig großzügige Spenden von uns. Ich denke, er würde uns solch eine Bitte kaum abschlagen. Und dann könnte man in aller Ruhe sehen, wie sich alles entwickelt." Und Helene hatte noch ein bisschen Zeit mit ihrem Sohn, ehe sie ihn ganz gehen lassen musste.
Mary nickte und sie setzen sich wieder in Bewegung, um gemeinsam zurück zur Burg zu schlendern. "Tja, ich fürchte, das wird er niemals ablegen. Es scheint einfach in seiner Natur zu liegen." seufzte sie mit einem schiefen Lächeln.

Edwards Besuch hatte nicht allzu lange auf sich warten lassen. Helene hatte beschlossen, sich im Hintergrund zu halten und Edward möglichst wenig zu begegnen. Wie sie Rachel geheim halten sollte, war noch nicht ganz klar, auch Mary nicht. Die Kleine fremdelte ein wenig, wollte nicht allzu lange fort von ihrer Mutter sein. Das machte die Dinge schwieriger.
Sie beobachtete Edwards Ankunft vom Fenster aus und sein Anblick brachte wieder einmal ihre Gefühle durcheinander. Sie hatten eine Verbindung zueinander, sie hatte Gefühle für ihn. Aber sie wollte seine Ehe nicht zerstören. Also blieb sie so lange wie möglich unsichtbar.
Raphael hingegen war mit Mary hinunter gegangen. Sie hoffte inständig, dass er nichts von seiner kleinen Schwester erzählte, aber sie wollte auch nicht den selben Fehler zweimal machen. Sie hatte ihn darum gebeten, es ihm aber nicht verboten. Es wäre heute so falsch gewesen wie es damals bei Alexanders Kind falsch gewesen war, Raphael und Michael mit hinein zu ziehen. Sie hatte sich keinen Rat gewusst. Nun, viel schlauer war sie heute auch nicht gerade...Es blieb ihr nichts als zu hoffen, dass es gut ging und Edward nicht zu lange blieb.

In geruhsamem Tempo ritten Edward und seine handvoll Begleiter in den Burghof von Dover Castle ein. Sein Blick glitt über die ihm mittlerweile recht vertraute Anlage und er atmete verstohlen durch. Sich selbst hatte er schon auf dem Weg hier her eingestanden, dass sein Besuch in Dover etwas gemischte Gefühle in ihm hervorrief, aber das hätte er niemals offen zugegeben. Sein Aufenthalt in Italien hatte ihm gut getan, Claire und er waren sich wieder nahe gekommen und er hegte wirklich Hoffnung, dass er seine Ehe doch wieder in geordnete Bahnen lenken konnte. Aber bei dem Gedanken an seinen letzten Aufenthalt hier in Dover, der ihm nun fast wie eine Ewigkeit her erschien, stolperte sein Herz etwas.
Daher redete er sich in Gedanken die ganze Zeit über ein, dass er hier war, um seinen Sohn zu sehen, sowie Mary und ihre Kinder. Und nichts sonst.
Als er aus dem Sattel seines Pferdes glitt, entdeckte er auch sogleich seine Schwester, die in den Burghof hinaus kam und von Raphael begleitet wurde. Achtlos warf Edward einem Stallburschen die Zügel zu und machte sich mit eiligen Schritten daran, den beiden entgegen zu gehen. Seine Kehle wurde etwas eng als er seinen Sohn so betrachtete ... wie groß der Junge seit dem letzten Mal schon wieder geworden war ...
Edward hielt sich nur mit Mühe davon ab, Raphael nicht stürmisch in die Arme zu schließen, denn er erinnerte sich genau, dass er solch elterliche Zuneigung in dem Alter in der Öffentlichkeit nicht mehr geschätzt hatte und er war sich nicht sicher, ob es seinem Sohn nicht genauso ging. Er konnte jedoch nicht widerstehen Raphael die Hände auf die Schultern zu legen. "Wie groß du geworden bist ..." murmelte Edward mit einem Lächeln auf den Lippen. "Fehlt nicht mehr viel und du bist schon ein richtiger Kerl, hm?"
Edward liebte seine Kinder von ganzem Herzen, das wurde ihm immer ganz besonders deutlich vor Augen geführt, wenn er sie nach längerer Trennung wieder sah und es schmerzte ihn etwas, dass er im Moment so viel von ihrem Leben verpasste, weil er mit Richard im Feld stand.

Mary freute sich wirklich ihren Bruder wohlauf zu sehen. Es war wieder viel zu lange her und auch wenn er immerfort Unruhe stiftete, war er doch ihr Bruder und ihrem Herzen wirklich nahe. Das Liebenswerteste an ihm war wirklich die Liebe zu seinen Kindern, das zeigte sich auch jetzt wieder. Wohlwollend beobachtete sie die Beiden miteinander.
Raphael strahlte seinen Vater an und bekam vor Stolz gleich ein wenig rote Wangen. "Ja, ich bin schon fast erwachsen!", erwiderte er fröhlich. "Fast so groß wie du." Er freute sich wirklich darüber, seinen Vater endlich wieder zu sehen. Für seinen Geschmack kam das viel zu selten vor. Und was seine kleine Schwester anging, nun, das wollte er wirklich seiner Mutter überlassen, wenn es sich vermeiden ließ.
"Wie lange kannst du bleiben, Vater? Bleibst du ein paar Tage bei uns? Ich will dir so viele Dinge zeigen!"
Mary lachte leise und trat näher, um ihren Bruder auf die Wange zu küssen. "Raphael, lass ihn doch erst einmal ankommen und sich von der Reise erholen. Ich bin sicher, er wird dir nicht weglaufen."

Edward grinste breit. "Aber nur fast. Ein bisschen wirst du wohl schon noch wachsen müssen, um mich einzuholen." bemerkte er augenzwinkernd und konnte dann dem Drang nicht widerstehen Raphael einmal durch den etwas wirren Haarschopf zu streichen. "Keine Sorge, ich werde ein paar Tage bleiben. Du kannst mir also in aller Ruhe zeigen, was du möchtest und ich bin gespannt drauf zu hören, was du alles gelernt hast seit ich das letzte Mal hier war." erwiderte Edward, ehe er sich seiner Schwester zuwandte und Mary in die Arme schloss.
"Mary, wie gut dich zu sehen." begrüßte er sie lächelnd. "Du siehst blendend aus. Daraus schließe ich, dass hier alles zu deiner Zufriedenheit läuft, hm? Was treibt deine große Kinderschar? Wie geht es Charles?" Auch wenn sein Schwager und er ausgesprochen unterschiedliche Charaktere waren, konnte Edward Charles gut leiden und schätzte ihn sehr. Nicht zu letzt, weil er Mary so unendlich glücklich gemacht hatte nachdem seine Schwester in ihrer ersten Ehe so viel Leid hatte ertragen müssen.

Mary schenkte ihrem Bruder einen gekonnten Augenaufschlag. "Oh, vielen Dank, Bruderherz. Sehr charmant von dir. Oh, es könnte kaum besser sein. Charles geht es gut, unsere Kinder halten uns auf Trab, aber sie sind alle gesund. Das ist die Hauptsache, nicht? Komm, Brüderchen, lass uns hinein gehen. Du kannst dich erfrischen und wir nehmen einen kleinen Imbiss ein. Dabei können wir in Ruhe reden. Raphael kann für dein Quartier zeigen und anschließend kommst du zu mir."
Mary machte eine einladende Geste zum Bergfried. Sie war neugierig und wollte gerne ein paar Einzelheiten über ihn und Claire und den Aufenthalt in Italien erfahren.
"Komm, Raphael, du wirst in nächster Zeit noch sehr viel von deinem Vater haben und ihm alles zeigen können, was dein Herz begehrt."