William und Joanna - ca. 1186 - ?

Harry

Harry schüttelte den Kopf, was er jedoch sogleich bereute, da ihm schwindlig wurde und sich sein Sichtfeld wieder einen Moment lang trübte. Ein dumpfer Schmerz pochte hinter seiner Schläfe und es war unglaublich mühselig zu atmen. Harry war überzeugt, dass es nicht mehr lange gedauert hätte, wäre Robert nicht gekommen und hätte dazwischen gefunkt. Er schloss verzweifelt die Augen.
„Warum -“ würgte er kaum hörbar hervor. Warum bist du gekommen und hast mich los geschnitten? Wieso hast du es mich nicht einfach zu ende bringen lassen?
Harry wünschte sich weit fort von hier. Er wollte nicht, dass John nach ihm sah und er wollte auch nicht, dass Sophie möglicherweise davon erfuhr. Er wollte doch nur diesem Jammertal, das sein Leben war, ein Ende machen, damit er sich nicht weiter plagte und anderen zur Last fiel.

Robert seufzte leise. "Schhschh...nicht. Warum? Warum ich dein Leben gerettet habe? Weil ich der Meinung bin, dass du noch viel zu erleben hast. Außerdem wäre es wirklich schade, würdest du uns all die Gedichte und Geschichten vorenthalten, die in deinem Kopf herum schwirren. Glaubst du wirklich, davon laufen ist eine Lösung? Ich kenne dich doch sonst nicht als Feigling, Junge. Komm schon, lass die Sache nicht so enden. Ich dachte, du hast einen Traum. Den Traum, dass jeder in England und Aquitanien deinen namen kennt, weil sie deine Stücke kennen. Auch wenn es sich jetzt bitter anfühlt, eine Frau ist es nicht wert, dass du alles fort wirfst.", sprach er ihm Mut zu.
"Eines Tages wirst du mir dankbar hierfür sein."

Harry

Harry spürte seine Augen brennen, doch die Tränen blieben aus. Nur ein ersticktes Schluchzen bahnte sich den Weg seine Kehle hinauf und Harry schloss fest die Augen, weil er Robert nicht ansehen wollte, aber auch nicht in der Lage war, seinen Kopf zu drehen. Er fühlte sich jetzt nach diesem missglückten Versuch aus dem Leben zu scheiden, noch schlechter als vorher, denn er wusste, dass Robert ihn nun mit Argusaugen beobachten würde und auch John ihm so schnell keine Möglichkeit geben würde, den Versuch zu wiederholen. Und bis er wieder die Chance dazu hatte, hatte Sophie längst hiervon erfahren … sie würde seine Gedichte gefunden haben und es würde sich auch im Nu herum sprechen, was er getan hatte. Und das würde alles nur noch schlimmer machen. Denn Harry vermutete durchaus, dass sie dann zu ihm kommen würde und das Letzte, was er jetzt wollte, war Sophie noch einmal zu sehen.
„Kann … nicht ...“ wisperte Harry leise, aber das Sprechen schien ihm nur mit jedem Wort schwerer zu fallen, so als würde sich das Ausmaß dessen, was er getan hatte, jetzt erst wirklich klar werden.
Aber das spielte jetzt eigentlich auch keine Rolle mehr. Eigentlich war es ihm nur Recht, sollte er doch noch an dieser Sache verrecken. Er konnte so nicht weiter leben, er wollte so nicht weiter leben. Nicht mit Sophie an der Seite von de Ferrers und außerhalb seiner Reichweite. Denn auch, wenn sie gesagt hatte, dass sie ihm weiter eine Freundin sein würde, wusste er, dass es nicht so sein würde. Sie würde mit ihrer Ehe genug zu tun haben, würde eine Familie gründen und obendrein würde de Ferrers sicher nicht zulassen, dass Sophie und er Kontakt hatten, wenn er erfuhr, wie es um Harrys Herz bestellt war.

Robert strich Harry weiterhin sanft durch den blonden Schopf, so als wäre es sein Sohn, den er da vor sich hatte. "Ich weiß, dass es schwer für dich ist. Du hast das Gefühl, niemals im Leben könntest du auch nur einen Funken glücklich werden. Du willst niemanden sehen, dich nur verkriechen. ich weiß so genau, wie du fühlst. Josephine hat mich ddamals verlassen, wusstest du das? Einfach so hat sie mich mit einem Brief abgespeist und ist gegangen. Heute weiß ich, dass sie mir nur die Entscheidung gegen meine Familie abnehmen wollte. Aber damals hätte ich es dir am liebsten gleich getan. Doch trotzdem bin ich froh, dass ich es nicht tat. Weißt du, nach dem Tal bringt das Rad der Fortuna einen immer wieder bergauf. Vertrau mir. Es erscheint dir jetzt unmöglich, aber du kannst. Und du bist nicht allein. Ich bin für dich da, wenn du das willst. Wenn du reden willst oder verzweifelst, egal wann. Und wenn es mitten in der Nacht ist. Wir bekommen das schon wieder hin, Harry. Du vertraust mir, oder?"

Harry

Harry konnte dem Drang schließlich nicht mehr widerstehen und öffnete doch wieder die Augen. Er sah Robert mit unsicherem Blick an während dieser sprach. Harry war sich nicht sicher, ob ihn die Worte wirklich trösteten, ob sie ihm Mut machten, aber zumindest lenkten sie ihn für einen kleinen Moment von seinem Elend ab. Er hatte nicht gewusst, dass Robert und Josephine so etwas durchgemacht hatten und er war in gewisser Weise fasziniert es zu hören. Die beiden waren ihm immer so perfekt, so harmonisch miteinander vorgekommen.
Harry zog die Schultern ein klein wenig hoch, um ein Achselzucken anzudeuten, dann sah er Robert noch einen Moment lang in die Augen und nickte schließlich kaum merklich. Jede Bewegung seines Kopfes schmerzte und darüber hinaus fühlte er sich wie zerschlagen und unfassbar müde. Es fiel ihm schwer sich zu konzentrieren und da er ohnehin Schmerzen litt, wollte er nur zu gern ein wenig schlafen. Vielleicht konnte er wenigstens im Traum vergessen, dass sein Leben in Scherben lag.

Endlich hatte Robert das Gefühl, als käme bei Harry etwas an. Er lächelte aufmunternd und beschloss dann die Gelegenheit zu nutzen, um den Jungen in sein Gemach zu bugsieren. John sollte nach ihm sehen und dann würde er eben in der Nacht über ihn wachen.
Ihm graute schon davor es morgen Sophie sagen zu müssen, aber besser so, als dass sie es selbst heraus fand. "Nun komm, ich helfe dir hoch. Meinst du, du kannst gehen, wenn ich dich stütze? John wird in deinem Zimmer nach dir sehen und dann kannst du schlafen."
Er stand auf und hievte Harry mühselig auf die Beine, legte sich dessen Arm um den Nacken und setzte sich in Bewegung.
"Es ist ja nicht allzu weit, wir schaffen das schon." Aber letztendlich wusste er nicht, wie sie es tatsächlich geschafft hatten Harrys Bett zu erreichen.

Harry

Harry sah Robert müde an und deutete ein Schulterzucken an. Er wusste nicht, ob er sich auf den Beinen halten konnte, gerade fühlte es sich nicht so an, aber versuchen würde Robert es sicher dennoch. Es kostete sie beide enorme Anstrengung bis Harry überhaupt auf den Beinen war und hätte Robert ihn nicht gestützt und festgehalten, wäre er umgehend wieder zu Boden gegangen. Harry gab ein zweifelndes Brummen von sich, ersparte sich und Robert den Versuch Widerstand zu leisten. Es hätte ohnehin nichts gebracht und ihn nur unnötig Kraft gekostet.
Der Weg von der Scheune zu Harrys Gemach dauerte lange und war unglaublich mühselig, gaben Harrys Beine doch immer wieder unter ihm nach und ein paar Mal wäre er um ein Haar im Dreck gelandet, wäre Robert nicht gewesen. Wie durch ein Wunder wurden sie auf ihrem Weg von niemandem gesehen und schließlich sank Harry völlig erschöpft auf sein Bett. Er schwitzte vor lauter Anstrengung und sein Atem, der ohnehin nur mühsam seine Lungen füllte, klang rasselnd. Robert half ihm aus seinen Stiefeln, dann streckte Harry sich auf dem Bett aus und drehte sich zur Seite. Er wollte niemanden sehen und schon gar nicht wollte er, dass John kam und ihm half, aber er wusste genau, dass Robert ihm das nicht ersparen würde.

Schweißgebadet hievte er Harry in dessen Bett und befreite ihn von den Stiefeln. Er musterte den Junge abschätzig und beschloss dann, dass der viel zu erschöpft war um es jetzt noch einmal zu versuchen. Also machte er sich ohne weitere Umschweife auf den Weg zu John.
Der Arzt tat sein Bestes und versorgte die Wunden am Hals, empfahl dem Partienten viel Tee zu trinken, damit auch die in Mitleidenschaft gezogene Kehhle sich wieder erholte. Wirklich viel tun konnte man nicht, die Verletzungen mussten von selbst heilen.
Robert ließ sich auf einem Stuhl neben dem Bett nieder. Das würde eine lange Nacht werden. "Nun schlaf, das wird dir gut tun. Ich bleibe bei dir."

Harry

Harry ließ Johns Untersuchung über sich ergehen und nickte dessen Anweisungen resigniert ab. Er hatte keine Ahnung, wie er überhaupt etwas seine Kehle hinunter bekommen sollte, aber notfalls verhungerte er eben … ihm war es gleich. Als John wieder gegangen war, sah Harry zu Robert, der sich neben dem Bett niederließ, als ihm etwas einfiel. „Könntest ...“ Weiter kam er nicht und schloss einen Moment frustriert die Augen. Dann deutete er zum Tisch hinüber, wo noch ein paar Bögen Pergament und seine Feder lagen. Nachdem er die Briefe geschrieben hatte, hatte er die Sachen dort einfach liegen lassen. Er wartete bis Robert begriff und ihm etwas zum Schreiben brachte.
Ich habe Sophie eine Nachricht in ihrem Zimmer hinterlassen. Könntest du sie holen gehen? schrieb er mit etwas zittriger Hand, aber selbst so erschöpft wie er war, hatte seine Handschrift den üblichen geübten Schwung. Er gab Robert das Blatt und sah ihn bittend an. Er wollte nicht, dass Sophie seine Werke und die Notiz fand, denn dann würde sie unweigerlich Verdacht schöpfen und noch schneller hier auftauchen.

Robert runzelte die Stirn, dann brachte er Harry Pergament und Feder und wartete. Verwirrt las er die Nachricht, nickte dann aber langsam.
"Ich versuche es, aber ich würde nicht darauf wetten, dass es nicht schon zu spät ist. Es könnte sein, dass sie das Essen schon beendet hat und zurück in ihren Gemächern ist. Wenn ich sie dort antreffe, muss ich es ihr sagen, das weißt du, nicht wahr?"
Er erhob sich und wandte sich zur Tür. "Ich versuche mein Bestes, aber versprechen kann ich dir nichts." Und spätestens morgen musste er es Sophie ohnehin sagen. Sie würde merken, dass Harry noch hier war, sich aber nicht sehen ließ. Außerdem hatte sie es verdient, das zu wissen.

Harry

Harry sah Robert betroffen an, biss sich auf die Unterlippe und nickte langsam. Sicher, Robert würde es seiner Schwester nicht vorenthalten können, zumal Sophie ohnehin wissen würde, dass etwas nicht stimmte, wenn sie seine Werke fand.
Harry griff noch einmal nach dem Papier und setzte die Feder an. Sie soll nur nicht herkommen. schrieb er eilig und sah Robert eindringlich an als er ihm die Worte zeigte. Er wollte Sophie nicht sehen, wollte nicht, dass sie herkam und nach ihm sah und er den Kummer in ihren Augen sah. Es würde ihm nur noch mehr das Herz zerreißen und Harry wusste nicht, wie er das noch aushalten sollte. Es war ja so schon unmöglich gewesen, sonst hätte er nie den Mut gefasst sich selbst so etwas anzutun.

Robert nickte bestätigend. "Ich werde es ihr sagen. Sie soll nicht kommen und ich hoffe, sie wird das auch respektieren. Und jetzt schlaf, du solltest dich ausruhen und deine Kräfte sammeln. Ich bin bald zurück." Er befürchtete nur, dass Sophie sich nicht so leicht abspeisen lassen würde.
Doch jetzt ging es erst einmal darum, Harry neuen Lebensmut zu verpassen und das würde noch eine Herausforderung werden. Vielleicht war es besser ihn nach Bordeaux zu bringen, sobald er wieder gesund war. Richard konnte seinen Bruder fernab von Sophies Nähe vielleicht etwas besser ablenken. Aber wenn der Junge wirklich so verzweifelt war, wurde es schwierig. Sie mussten einfach abwarten, wie sich die ganze Sache entwickelte.

Harry

Harry war eingeschlafen, kaum dass Robert den Raum verlassen hatte, so erschöpft war er. Es war ein nahezu traumloser Schlaf, nur hin und wieder flackerten wirre Bilder vor seinem Auge auf, doch er konnte sie nie lang genug festhalten, um ihre Bedeutung zu begreifen.
Schließlich drang jedoch irgendetwas durch den Nebel des Schlafes hindurch und sorgte dafür, dass Harry aufwachte. Er blinzelte leicht und bemerkte als erstes, dass es hell war – es musste Tag geworden sein, die Frage war nur, ob der nächste oder ob er sogar noch länger geschlafen hatte? Er war sich nicht sicher, fühlte er sich doch als hätte er Monate geschlafen und war trotzdem nicht erholt. Harry blinzelte erneut und zwang sich dann die Augen wenigstens einmal zu öffnen – nur, damit sein Herz im nächsten Moment stockte als er direkt in Sophies Gesicht blickte, das gerade über ihm auftauchte.
„Sophie ...“ Wieder war es kaum mehr als ein Krächzen, das über seine Lippen kam und Harry kam es vor, als klinge es noch unverständlicher als gestern Abend. Unweigerlich musste er husten, was jedoch nur dazu führte, dass seine Hals- und Kopfschmerzen nur noch schlimmer wurden. Wieso war sie hier? Wieso kam sie hier an sein Bett? Robert hatte doch gesagt, dass sie nicht kommen würde … oder?
Harrys Mundwinkel zuckten schmerzlich, denn nun gesellte sich zu dem körperlichen Schmerz auch der seelische wieder mit aller Macht hinzu. Er sah Sophie noch einen Moment lang schwer atmend an, dann nahm er alle Kraft zusammen, die er so kurz nach dem Aufwachen aufbringen konnte und drehte ihr den Rücken zu. Er schloss fest die Augen und betete zu Gott, dass sie einfach gehen würde, dass sie nicht mit ihm sprach, ihn nicht berührte … sie sollte einfach wieder gehen und seine Pein nicht noch verstärken.

Sophie

Sophie saß schon seit ein paar Stunden an Harrys Bett und beobachtete dessen unruhigen Schlaf. Sie hatte ein unfassbar schlechtes Gewissen. Sie hatte doch nicht ahnen können, dass er wegen ihrer Entscheidung gegen ihn versuchen würde, sich das Leben zu nehmen.
Robert hatte ihr nichts sagen wollen, doch sie hatte Harrys Gedichte und seinen Zettel gefunden. Das hatte sie misstrauisch gemacht und so hatte sie Robert festgenagelt, bis er ihr die Wahrheit sagte. Er hatte sie eindringlich gebeten nicht herzukommen, aber wiekonnte sie Harry nun im Stich lassen? Sie war doch Schuld daran.
Inzwischen war es Nachmittag, als Harry blinzelnd erwachte und schließlich ihren Namen herausbrachte. "Harry...." Es schmerzte sie, dass er ihr den Rücken zuwandte. Trotzdem blieb sie sitzen, wagte aber nicht ihn zu berühren.
"Es tut mir so leid...du musst mir nicht antworten, wenn du nicht willst. Aber ich konnte dich doch nichtim Stich lassen jetzt, wo es dir so schlecht geht. Du bist mir doch trotzdem wichtig. Bitte, ich bin es doch nicht wert, dass du dein Leben wegwirfst. Du hast noch so viel zu tun. Alle Welt muss deine wundervollen Werke lesen und hören."

Harry

Harrys Hand wanderte zu seiner Brust und vergrub sich dort im dünnen Stoff seines Hemdes als er Sophies Stimme hörte. Wie konnten Glück und Verzweiflung nur so nah beieinander liegen? Wie konnte er trunken sein vor Freude, weil er ihre Stimme hörte und sich gleichzeitig aus genau demselben Grund fühlen als stürze er in einen finsteren Abgrund hinab?
Er gab einen verzweifelten Laut von sich, eine Mischung aus einem Seufzen und einem Stöhnen, der Unfähigkeit sprechen zu können geschuldet. Selbst wenn er gewollt hätte, hätte er kein Wort heraus gebracht. Allein ihren Namen zu sagen war schon anstrengend genug gewesen und seine Kehle brannte wie Feuer, wund wie sie noch immer war.
Du bist mir doch trotzdem wichtig.
Trotzdem … als könnte es etwas schlimmeres geben, was sie hätte sagen können. Sie konnte ihn jetzt nicht im Stich lassen? Sie wollte ihm beistehen bis er gesund war, um sich dann de Ferrers in die Arme zu werfen? Wie sollte er das denn ertragen können?
Eigentlich wollte er nicht, er wollte so liegen bleiben, ihr den Rücken zugewandt und warten bis sie endlich wieder verschwand, aber er brachte es einfach nicht fertig. Vielleicht war es der hoffnungslose Träumer in ihm, der einfach nicht widerstehen konnte, doch egal, was es war, es brachte Harry dazu, sich wieder umzudrehen. Langsam wandte er sich um, so dass er Sophie wieder ansehen konnte und betrachtete ihr Gesicht, sah in ihre wundervollen Augen, die nun so voller Kummer waren. Kummer, den er verursacht hatte.
Harry schloss die Augen. Er wünschte, er wäre Manns genug gewesen, ihr früh genug zu sagen, was er empfand und nicht erst als es schon zu spät gewesen war.

Sophie

Sophie war ein wenig erleichtert, als er sich zu ihr umdrehte und erwiderte seinen Blick. Sie hatte ihn noch nie so am Boden zerstört gesehen und sie wusste, das war alles ihre Schuld. Hatte sie doch die falsche Entscheidung getroffen? Die Zweifel kamen mit Macht zurück. Wie sollte sie Harry begegnen? Wie ihm helfen?
Sophie streckte die Hand aus und strich sanft über seine Wange. "Ich wollte dir doch nie so weh tun. Ich weiß, dass das alles meine Schuld ist, aber ich habe wirklich versucht alles richtig zu machen. Ich bin es nicht wert, dass du so an mir hängst."
Sie seufzte schwer und überlegte, dass es gut wäre, wenn seine Schwester nach ihm sah. Harry hatte zu Aileen immer eine ganz besondere Beziehung gehabt und wenn jemand ihn aus diesem Loch holen konnte, dann sie.

Harry

Harry schloss erneut die Augen als Sophie ihm über die Wange strich, dann legte er die Hand an ihre, um sie daran zu hindern, sie wieder weg zu nehmen. Wenigstens einen Moment lang wollte er so tun, als gehöre sie ihm. Als sei diese Geste mehr als eine Mitleidsbekundung.
Er sah Sophie an und schüttelte dann leicht den Kopf. Es war nicht ihre Schuld, ihre Entscheidung war nur der letzte Tropfen im ohnehin zu vollen Fass gewesen und hatte es zum Überlaufen gebracht. Schuld war er selbst, weil er sich seine Gefühle nicht früh genug eingestanden hatte und weil er mit Sophie nicht gesprochen hatte, ehe es zu spät war.
Harry strich zärtlich über Sophies Handrücken und legte ihre Hand dann auf seine Brust, direkt über sein Herz. Er lächelte leicht. Sie war es sehr wohl wert, dass er so an ihr hing und egal was sie tat, das würde sich auch nicht ändern, denn er war schlichtweg ein hoffnungsloser Fall.

Sophie

Sophie ließ zu, dass erihre Hand festhielt und darüber strich, sie schließlich auf sein Herz legte. Sie musste wirklich hartnäckig die Tränen unterdrücken. Warum musste er nur ausgerechnet sie so sehr lieben? Sie hatte doch William de Ferrers ein Versprechen gegeben, das sie auch haltenwollte. Und nun saß sie hier in diesem Dilemma.
"Ich werde noch eine Weile bleiben, du solltest versuchen noch etwas zu schlafen. Das wird dir gut tun, glaub mir. Und später hole ich Aileen, sie hat schon nach dir gefragt und macht sich Sorgen. Ihre Nähe wird dir auch weiterhelfen."
Das würde ihm vermutlich besser tun als ihre Anwesenheit.

Harry

Auch wenn er am liebsten jede Sekunde genutzt hätte, die Sophie bei ihm war, war Harry im Nu wieder eingeschlafen. Das nächste Mal wurde er wach, als die Tür geschlossen wurde und er sah, wie Aileen sich herum drehte, um zu ihm zu gehen.
Sein Magen zog sich zusammen und er streckte die Hand nach seiner Schwester aus. Es tat unglaublich gut sie zu sehen, stellte er fest. Seine kleine, liebe Aileen ... sein kleines Schwesterchen, das in der Lage gewesen war, ihr Leben zu ordnen bevor er es mit dem seinen auch nur ansatzweise fertig gebracht hat.
Harry spürte die Tränen in seinen Augen schon bevor Aileen überhaupt sein Bett erreicht hatte und der Wunsch danach seine Schwester in die Arme zu schließen wurde beinahe übermächtig.

Aileen

Aileen hatte schockiert zur Kenntnis genommen, dass ihr großer Bruder, der immer so stark und lebensfroh gewesen war, versucht hatte sich zu erhängen. Weinend hatte sie erst einmal Trost in Elias' Armen gesucht und sich nun soweit gefasst, dass sie daran gehen konnte Harry zur Seite zu stehen. Sophie hatte ihr gesagt, dass er wach gewesen war. Also hatte sie eine kleine Weile gewartet und sich dann auf den Weg gemacht.
Er erwachte, als sie die Tür schloss und streckte ihr die Hand entgegen. Sie griff danach, als sie zu ihm hinüber eilte und die Tränen in seinen Augen erkannte. Ohne Weiteres legte sie sich zu ihm und schlang beide Arme um ihn, küsste seine Wange.
"Oh Brüderchen, was machst du nur? Ich bin hier, ich bin bei dir, hab keine Angst."

Harry

Harry war erleichtert, dass Aileen keine Zeit verschwendete und sofort zu ihm unter die Bettdecke kroch. Er zog sie an sich und vergrub das Gesicht an ihrer Schulter als sie die Arme um ihn legte. Ihre Anwesenheit, die Nähe zu der einzigen Person, die ihm in den vergangenen Jahren wirklich Familie gewesen war und ihre Stimme ließen die Dämme brechen und die Tränen kamen nun unaufhaltsam.
Harry schluchzte leise, was unweigerlich die Schmerzen in seiner Kehle heraufbeschwor und ihm ein Stöhnen entlockte. Mit dieser seltsamen Mischung gestattete er sich, sich ein wenig auszuweinen, seinen Gefühlen und vor allem der Verzweiflung freien Lauf zu lassen.
"Aileen ..." es war ein kratziges Wispern, dass er hervor brachte und strich ihr dann sachte über den Rücken. "Ich ... kann nicht ..." Harry gab einen unwilligen Laut von sich, weil ihm das Sprechen noch immer so schwer fiel. "weiß nicht ... mehr weiter." wisperte er leise.

Aileen

Aileen ließ zu, dass Harry sich bei ihr ausweinte und strich zärtlich durch den blonden Schopf. Sie liebte ihren Bruder so sehr, sie wollte ihm unbedingt helfen. Noch wusste sie nicht genau wie, aber irgendetwas würde ihr schon einfallen.
"Du kannst. Wir brauchen dich ja noch und ich will noch so viel von deinen Gedichten lesen. Außerdem brauche ich doch meinen großen Bruder, der immer da ist, wenn ich ihn brauche. Ich will einen liebevollen Onkel für meine Kinder, wenn es soweit ist. Sie werden dich vergöttern. Das kannst du nicht einfach wegwerfen. Du kannst auch ohne sie leben. Außerdem ist doch noch längst nicht alles verloren, Brüderchen. Vielleicht besinnt sie sich ja eines Tages."

Harry

Harry sah Aileen niedergeschlagen an und schüttelte dann den Kopf. "Wird mich nicht ..." Harry stockte und rang etwas nach Atem, ehe er fort fuhr. "Nicht haben wollen." vollendete er leise.
Wieso sollte sich auf irgendetwas ändern? Sophie hatte sich für de Ferrers entschieden, er hatte das Nachsehen. Und er wollte nicht in einer Welt leben, in der er Sophie nicht an seiner Seite wusste, sondern bei jemand anderem.
Und er war ja ohnehin eine große Enttäuschung für alle, was machte es da schon, wenn er früher aus der Welt schied? Wenn Robert ihn doch nur nicht gefunden hätte ...
"Ich liebe ... sie so ... sehr ... es tut so ...weh." murmelte Harry und verstärkte seine Umarmung um Aileen ein wenig, so als müsse er sicher gehen, dass sie noch immer hier bei ihm war, dass wenigstens sie ihn nicht verlassen hatte ... das hieß ... doch, in gewisser Weise hatte auch sie ihn verlassen. Er hatte sich so darauf gefreut sie nach Bordeaux zu holen und nun saß sie hier in Truro und würde sicher bald für diesen Elias die Bälger ausbrüten. Nichts war mehr so wie früher und Harry fühlte sich furchtbar einsam.

Aileen

Aileen seufzte leise und küsste ihn auf die Stirn. "Woher weißt du das denn? Du kannst nie wissen, wie sich die Zukunft entwickelt. Und selbst wenn nicht, Harry...es gibt so viele Frauen auf der Welt. Ich bin sicher darunter ist eine, die dir gefällt und die deine Liebe zu schätzen weiß. Mach dir nicht so viele Gedanken. Du brauchst sie nicht um zu leben. Du brauchst Pergament und Feder. So war das doch immer, Brüderchen."
Sie schmiegte sich an ihn, um ihm wesentlich mit ihrer Nähe helfen zu können. "Ich weiß, dass es weh tut. Aber das geht vorbei, Harry...es wird besser werden. Wenn du wieder gesund bist, solltest du nach Bordeaux zurückkehren. Das ist besser für dich. Und vielleicht könnten Elias und ich dich begleiten.", versuchte sie ihn aufzumuntern.

Harry

"Viele, aber ... nur die eine für ... mich." erwiderte er heiser. Er sah Aileen zweifelnd an. Alle sagten sie ihm, dass es ja nicht so schlimm sei und alles gut werden würde, aber niemand von ihnen wusste, wie es in ihm drin aussah. Wie sehr er unter dieser Abfuhr litt und wie ihn die Vorstellung in Angst und Schrecken versetzte, dass er ohne Sophie nach Bordeaux sollte.
Harry sah Aileen zweifelnd an. Gesund werden ... seine Verletzungen waren das eine, aber wenn diese verheilt waren, würde er noch lange nicht gesund sein. Es war als würde ein Stachel in seinem Herzen stecken und ihn ganz langsam vergiften. Je mehr er nachdachte, desto schlimmer ging es ihm und desto weniger Antrieb hatte er, überhaupt noch etwas zu tun.
Harry lehnte sich etwas vor, so dass er dichter an Aileens Ohr heran kam. "Tut mir Leid ... dass ich dir so ... viel Kummer ..." er brach ab, weil er husten musste und beließ es dann dabei. Sie würde schon verstehen, was er sagen wollte.